Diesen Beitrag habe ich für unsere Forschungsgruppe zu den Sinnen des Ich geschrieben. Wir treffen uns abwechselnd in Bonn und Horstedt.
In dem jüngst erschienenen Buch von Salvatore Lavecchia ‚Ich als Gespräch, Anthroposophie der Sinne‘ habe ich einen sehr interessanten Beitrag zu meinem (unseren) Forschungsthema ‚Die Sinne des Ich‘ gefunden. In dem Kapitel ‚Ich und Sinn‘ mit dem Untertitel Das Urbild der Wahrnehmungsorgane arbeitet Lavecchia den Gedanken aus, dass das Urbild aller Sinne, also gewissermaßen der Ursinn die Ich-Wahrnehmung ist. Die einzelnen Sinne werden als Modifikationen des Ich-Sinnes verstanden, also des Sinnes, mit dem ich ein anderes Ich wahrnehmen kann. Das dreht die ganze Perspektive der Sinneswissenschaft um. Ursprung und Ziel der Sinneswahrnehmung ist die Ich-Wahrnehmung. „Ist jedes Wahrnehmen, auch das alltäglichste, unscheinbarste, das ich als Ich verwirkliche und das ins Verstehen eines anderen Wesens münden kann, doch nicht vielleicht eine – für jede Wahrnehmung unterschiedlich starke – Annäherung an die Qualität der Begegnung zwischen sich verstehenden Ichwesen?“ (Lavecchia S. 37). Lavecchia für diese Perspektive auf die Sinne eine Formulierung Steiners gefunden, die aus der Zeit stammt, als Steiner an seinem Buch ‚Anthroposophie‘ arbeitete, das ja eine Sinneslehre aus dem Übersinnlichen heraus, also eine Anthroposophie der Sinne realisieren sollte (und teilweise auch geleistet hat). „An dem Ich-Erlebnis kann erkannt werden, dass das Menschenwesen aus sich heraus einen Organismus gestaltet, der in sich das Bild eines gleichen fremden Ichs gegenwärtig machen kann. Was sich als solcher Organismus gestaltet, kann als Typus eines Wahrnehmungsorgans betrachtet werden.“ Ich bin Salvatore Lavecchia für das herausarbeiten dieses Gedankens wirklich dankbar, denn es wird damit ein Begriff des Menschen als Sinneswesen gefasst, der wie ein Okular wirken kann. Man schaut durch diesen Begriff auf das, was die Leistung (im aristotelischen Sinne), also das Was des menschlichen Organismus ausmacht. Er ist Typus eines Wahrnehmungsorgans für das Ich-Wesen in der Welt.
Wir aktualisieren mit einem solchen Begriff die alte aristotelische Maxime des ‚anima forma corporis‘ in diese gegenwärtige anthroposophische Perspektive: Das Ich ist die Form des menschlichen Organismus. Von diesem Grundgedanken ausgehend kann man natürlich jetzt immer weiter im Detail die einzelnen Sinne in ihrem Verhältnis zum Ich, und das Ich im Verhältnis zu den Sinnen untersuchen. Man kann ebenso die Entwicklung eines solchen ‚Typus‘ verfolgen, der sich von einem noch nicht verkörperten Ich zu einem in einem Organismus verkörperten Ich entwickelt hat. Oder einfacher formuliert, das Ich ist von Beginn an da, es ist der Entwicklungstreiber und Ursprung, aber es ist noch nicht in der Lage sich selbst und andere Ich-Formen wahrzunehmen. Dazu braucht es die Entwicklung des menschlichen Organismus. Der ‚Zweck‘ des menschlichen Organismus ist die Ich-Wahrnehmung.
Mit Ich-Wahrnehmung ist natürlich in erster Linie die Wahrnehmung eines anderen Menschen als Ich gemeint, aber Lavecchia hat es in seiner Bemerkung schon angesprochen, eigentlich ist jede Wahrnehmung ein Ansatz zu einer Ich-Wahrnehmung. Das meint, auch einfache Gegenstände der Natur, der Welt zielen auf eine Wahrnehmung unter einer solchen Ich-Perspektive. Entwicklungsgeschichtlich bedeutet dies den nächsten Schritt in der menschlichen Entwicklung. Nach der im Mittelalter realisierten und dokumentierten Individualisierung des Denkens in der Relation zum allgemeinen Denken (des Engels) geht es jetzt um die Realisierung der Individualisierung des Wahrnehmens.
Insofern ist jede Wahrnehmungspsychologie auf dem falschen Pfad, die nicht danach fragt, was die Wahrnehmung in Bezug auf die Ich-Entwicklung für eine Funktion hat, und umgekehrt welche Funktion die Ich-Entwicklung für die Wahrnehmung hat und damit für die Weltentwicklung als Ich-Natur.
Mir war es wichtig diesen Gedankenzusammenhang einmal zu dokumentieren, damit er dann weiter ausgearbeitet werden kann.
Roland Wiese 17.7.2022
Literatur: Salvatore Lavecchia, Ich als Gespräch, Anthroposophie der Sinne, Verlag freies Geistesleben 2022.