Einsamkeit wird immer mehr gesellschaftlich als Problem der Gegenwart wahrgenommen. Einsamkeit kann aber über das Erleben eines Zustandes hinaus Folgen für das gesellschaftliche Klima haben. Einsamkeit wirkt nicht nur passiv als Erleben, sondern auch gefühlsbildend und willenstreibend. Gleichzeitig ist Einsamkeit als ‚Durchgang‘ und  ‚Übergang‘ zu neuen Verbindungsmöglichkeiten mit meiner Umgebung notwendig. Was könnte helfen, das Einsamkeitserleben in dieser Weise denken zu können, also nicht als ‚Endstation‘ anzusehen.

Zwei Erlebnisse der letzten Tage sollen in diesem Beitrag zusammengedacht werden. Das erste Erlebnis hatte ich beim Lesen eines Artikels in der Süddeutschen Zeitung (8.August 2024). Der Artikel hat die Überschrift ‚Das Ohne-mich-Gefühl‘ (Peter Laudenbach ist der Autor) und bezieht sich auf ein Buch mit dem Titel ‚Einsamkeit und Ressentiment‘. Die Autoren untersuchen also nicht vordergründig das Phänomen der Einsamkeit, sondern sie „fragen nach den Wechselwirkungen zwischen den Dynamiken der Vereinsamung und des Ressentiments gegenüber einer als bedrohlich, feindlich, fremd wahrgenommen Umwelt.“ Und die Autoren sprechen im Zusammenhang mit dem Rückzug in die soziale Isolation als Folge von Kränkungserfahrungen und Erfahrungen der Ohnmacht von einer „Selbstvergiftung“.

Beim Lesen des Artikel, vor allem beim Lesen bestimmter Formulierungen (wie den gerade zitierten), hatte ich meinen eigenen Zusammenhang im Bezug auf die Ich-Entwicklung im Übergang vom 20. Ins 21. Jahrhundert vor Augen. Mir wurde durch die ‚Brille‘ des Artikels deutlich, dass die laufende bzw. nötige Ich-Entwicklung wie verborgen hinter all den geschilderten gesellschaftlichen Phänomenen steht. Das Ich kommt an eine Grenze seiner selbst, als erlebender Mensch und dann stellt sich die Frage, was der nächste Entwicklungsschritt für ein solches an die Subjekt-Grenze gekommenes Ich sein kann. Es trennen sich an dieser Grenze immer mehr Subjekt und objektive Außenwelt und so ist eine ‚Selbstvergiftung‘ notwendige Folge einer solche ‚absoluten‘ Trennung, ohne Perspektive sie jemals wieder aufheben zu können.

Rudolf Steiner hat in seinen Mantren der Freien Hochschule (1924) von der Möglichkeit gesprochen, dass das Ich an einer solchen ‚Schwelle‘ sich in sich selbst verhärten könne, oder auch zerstäuben, sich auflösen könne. Robert Kegan hat in den achtziger Jahren von der möglichen ‚Regression‘, also einem Versuch wieder zurück zu gehen in der eigenen Entwicklung angesichts der Unsicherheit des Nicht-Weiter-Wissens an solchen Entwicklungsschwellen. Wolf-Ulrich Klünker spricht von ungeheuer harten Bedingungen für die Entwicklung des Ich in dieser Situation. Und diese Härte entsteht vor allem dadurch, dass ich ‚gesellschaftlich‘ kein Denken vorfindet, das die Verhältnisse von Subjekt und Objekt anders als absolut getrennt denkt. Man konnte in der Zeit der Corona-Pandemie bemerken, dass die dort maximalisierte Trennung von Subjektivität und Objektivität, zu einem ebenso maximalen ‚Aufschäumen‘ der Erregungen an dieser scharfen Grenze geführt haben.

Demgegenüber steht, das meistens ‚unbewusste‘ oder ‚halbbewusste‘ Erahnen und Empfinden, dass „meine Entwicklung, mein Selbstbild, ja sogar mein Selbstgefühl in hohem Maße davon abhängt, was andere Menschen an mit bemerken, was sie an mir ‚erkennen‘ oder empfinden; wichtig ist auch, dass sie mir diese ‚Bezeugung‘ meiner selbst auch spiegeln können.“ (W.U.Klünker, Die Empfindung des Schicksals, S. 10). Eine Perspektive der wechselseitigen Entwicklung, aber auch die existentielle Notwendigkeit eines ‚Haltens‘ durch andere in den Zeiten, in denen ich mich nicht an meiner Vergangenheit orientieren kann, sondern in die Zukunft gehen muss und will, fehlt aber. Stattdessen verschärft sich die eigene Subjekt-Situation, weil sie einer anonymen und objektiven Form von  ‚Gesellschaft‘ oder ‚Natur‘ oder ‚Technik‘ usw. sich gegenüber gestellt sieht. Eine Welt in die man nicht hineinkommen kann. Weil diese Welt ein Gedankenkonstrukt ist und ich gleichzeitig ihren Wirkungen ausgeliefert erscheine.

Ein Ich ohne Ausweg führt zwangsläufig zur ‚Selbstvergiftung‘ oder zum Wunsch nach ‚Selbstauflösung‘. Denn die Entwicklungszukunft dieses Ich kommt immer aus der Peripherie des Ich. Sie muss aber aus dem zentralen Ich antizipiert werden können. (In der psychiatrischen Recovery-Bewegung spricht man entsprechend von einem ‚intent to hope‘, den das Ich braucht, entweder durch sich selbst, oder aber von anderen aufrecht gehalten, wenn man ihn selber zeitweise verloren hat).

Es scheint mir wichtig diese von dem Artikel abweichende Ich-Perspektive zu formulieren. Weil in dem Artikel zwar richtig benannt wird, dass die Einsamkeit und die Isolation nicht nur ein Erleben generieren bzw. sind, sondern dass sie auch zu Rachebedürfnissen des Ich für die Kränkungen, die es erlebt hat ( und die nach außen verlagert werden) führen, zu Ressentiments, und damit auch zu politischen und gesellschaftlichen Folgen für das soziale Klima, aber nicht erkannt wird, dass in der Analyse die Spaltung zwischen Subjekt und Welt nicht aufgehoben wird, sondern eben nur benannt wird.

Ein zweites Erlebnis hatte ich vor ein paar Tagen bei einem Gespräch im Vorstand des ‚Umkreis e.V.‘.  Im Gespräch über die merkwürdige Entwicklungsfigur unseres Zusammenhanges (über dreißig Jahre hinweg), die sich als radikale Individualisierung und Verfolgung der individuellen Entwicklungsintentionen der einzelnen Menschen zeigt, statt als Wachstum zu einer großen Organisation, Gemeinschaft oder Institution, wurde auch immer wieder von ‚Einsamkeit‘ gesprochen. Auch dieses ‚Einsamkeitserleben‘ wurde als unangenehm und schmerzlich erlebt. Gleichzeitig war aber ein ‚Nebenbewusstsein‘ vorhanden, dass der Durchgang durch dieses ‚Nadelöhr‘ des eigenen Ich  für dessen Entwicklung und damit für die Entwicklung und Realisierung der eigenen Intentionen notwendig ist! Das könnte bedeuten, dass es gar nicht darum geht ‚Einsamkeit‘ auch eine gewisse ‚Aussichtslosigkeit‘ oder ‚soziale Isolation‘ zu vermeiden. Bei den Intentionen der Anwesenden handelte es sich durchweg um Lebensinhalte und Formen, die im Mainstream nicht vertreten sind. Einsamkeitserlebnisse werden in einer solchen Relation nicht zu vermeiden sein. Es braucht aber vielleicht eine Art Doppelbewusstsein für diese Entwicklungssituation. Man muss die ‚Funktion‘ der Einsamkeit begreifen und erleben können.  (Eine Situation, die viele Künstler und Wissenschaftler kennen). Gleichzeitig braucht es aber auch ein menschliches Milieu, und in unserem Fall waren und sind dies noch nicht einmal inhaltliche Ähnlichkeiten, die unseren Zusammenhang bilden, das geradezu darauf aus ist, die individuelle Intention des anderen sich entwickeln zu lassen. Und dies gilt auch, ohne dass man das Schicksal des anderen in seinen ganzen Einzelheiten teilen oder nachvollziehen kann. In unserem Fall kann man berechtig von einer gewissen parallelen geistigen Entwicklungsbewegung sprechen, die die Ich-Entwicklung des heutigen Menschen als Fragestellung hat. Dieser hier nur angedeutet Gesamtzusammenhang scheint eine gewisse Voraussetzung und Bedingung dafür zu sein, das die Ich-Entwicklung und das dafür notwendige Zurückgeworfensein auf sich selbst, nicht zu einer aussichtslosen ‚Selbstvergiftung‘ führt.

Was für ‚uns‘ allerdings noch aussteht ist eine explizitere Erforschung der angedeuteten Wechselwirkungen. So tauchten in dem Gespräch schon einige wesentliche Begriffe und Phänomene auf, die wegleitend sein können. Ein solcher Begriff, der als Erlebnis mit dem Einsamkeitserleben parallel sich zeigte, war ‚Freiheit‘. Die Freiheit den eigenen Weg gehen zu können und zu wollen. Ein anderer, schon etwas komplexere Begriff, war der der präzisen Willensbewegung in einem sich erst langsam aufhellenden Schicksalsgeschehen. Und letztlich stellt sich auch die Frage, welche Bewusstseinsformen und Erlebnisformen einer solchen ja noch vorläufigen Wirklichkeit zu einer bewussten Wirklichkeit verhelfen können. Hier gilt es weiter zu forschen, auch wenn in diesem Gebiet nur die ‚subjektive Erfahrung‘ als Forschungsgegenstand gegeben ist und auch nur diese weiterhelfen kann…

Roland Wiese 11.8.2024